Wohltuende Tränen

Written by Motte

Chapter 1

Die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel herab und wärmte den Asphalt auf. Passanten schlenderten in sommerlicher Kleidung gutgelaunt an den vielen Läden vorbei und genossen den Sommer.

Es herrschte reger Betrieb. Die Menschen drängten sich dicht aneinander vorbei und niemandem fiel der etwa 20jährige Typ auf, der sich, mit einer Sporttasche über der Schulter, durch die Masse schob. Er hatte seine Basecap tief ins Gesicht gezogen, um möglichst wenig von dem Geschehen um sich herum mitzubekommen. Dennoch, die Situation war ihm nur allzu vertraut. Es war genau, wie vor einem Jahr, nur mit einem großen Unterschied: er war allein. Da war kein zweites, etwas kleineres Fußpaar, das mit ihm ging, da war keine Hand in seiner, und da war nicht diese eine, einzigartige Stimme. Noch heute konnte er sie lachen hören.

Er war froh darüber.

Als er spürte, wie sich ein paar Tränen in seine Augen schlichen, schüttelte er hastig den Kopf, um sie zu verdrängen. Nein! Er würde jetzt nicht schwach werden, noch nicht. Eine Weile noch musste er durchhalten. Rasch beschleunigte er seine Schritte. Eine rote Ampel unterbrach seinen Weg, er blieb stehen und hob kurz den Kopf.

Prompt blieb er mit den Augen an einem Schild hängen. Wie hypnotisiert klebte sein Blick an der blauen Teekanne mit der verschnörkelten Schrift und rutschte dann daran hinab zu den hübschen, metallenen Tischchen, die vor dem kleinen Café standen. Ihm war, als könnte er sein jüngeres Ich an einem von ihnen sitzen sehen. Nervös und mit verschwitzten Händen.

Hier hatten sie ihr erstes Treffen gehabt, hier waren sie ein Paar geworden.

Den Blick konnte er erst abwenden, als das Ampelmännchen auf grün sprang. Er musste weiter. Penibel darauf achtend, nicht nochmal zu dem Café zu sehen, überquerte er die Ampel. Ob er sich sonst noch zusammenreißen könnte, wusste er nicht.

An der nächsten Kreuzung bog er in eine weniger belebte Seitenstraße. Auch hier versuchte er alles bis auf die Pflastersteine und seine weißen Chucks auszublenden. An diese Straße hatte er zu viele Erinnerungen. Erinnerungen, in denen sie gemeinsam und ganz betrunken vor Glück an den verschmutzten Hauseingängen vorbeigestolpert waren.

Er musste sich beherrschen, durfte nicht daran denken, wollte nicht zulassen, dass die Gefühle die Oberhand gewannen und kleine Bäche auf seinen Wangen erschaffen würden. Salzige Bäche, vollgesogen mit Trauer. Zu lange hatte er sie schon zurückgehalten, nun konnte er auch noch ein bisschen länger durchhalten, jetzt, wo er schon einmal zurückgekehrt war.

Noch ein paar Mal bog er ab, ließ die fröhlich plappernden Stimmen hinter sich. Mit der einen Hand umklammerte er fest den Zettel mit der Wegbeschreibung zu ihr, oder zu dem, was von ihr geblieben war. Er hatte ihn nun schon so oft gelesen, dass er ihn auswendig konnte und er an den Kanten ganz brüchig geworden war, doch es war, als würde das kleine, zerknitterte Stück Papier ihn im Hier und Jetzt halten.

Mit der anderen Hand hielt er ein Foto. Es zeigte sie beide und war kurz vor der Diagnose aufgenommen worden. Es war Ewigkeiten her, dass er es angesehen hatte.

Noch eine von Magnolienbäumen gesäumte Straße lag vor ihm, dann stand er an dem niedrigen Tor. Tief luftholend rückte er die Tasche zurecht, drückte die Klinke hinunter und öffnete das kleine Tor.

Die friedliche, bedrückende Stimmung, die auf jedem Friedhof herrscht, schlug ihm entgegen.

Noch einmal ballte er die Faust ganz fest um die Wegbeschreibung, dann setzte er sich in Bewegung. Er wusste, wo er lang musste, dennoch kannte er den Weg nicht, denn er war noch nie hier gewesen. Nicht einmal zur Beerdigung.

Die Schuldgefühle, die ihn seit jenem schicksalsreichen Tag plagten, als er weggegangen war, als er davon, von ihrem Tod erfahren hatte, drangen wieder an die Oberfläche. Zum ersten Mal bekämpfte er sie nicht. Was hätte das für einen Sinn? War er nicht genau deshalb hierher gekommen? Um wenigstens ein bisschen wieder gut zu machen?

Ihr Grab lag am Ende einer Reihe von Urnengräbern. Der Grabstein war schlicht und weiß. In schwarzen Lettern stand ihr Name, Geburts- und Todesdatum darauf. Vor dem Stein blühten ein paar Vergissmeinnicht.

Es hätte ihr gefallen. Vergissmeinnicht waren ihre Lieblingsblumen gewesen. Sie hatte den wehmütigen Namen und ihr wunderschönes Blau geliebt.

Tränen stiegen ihm in die Augen. Die Tasche glitt ihm von der Schulter und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Kiesweg. Er bemerkte es kaum. Er starrte nur auf das Bild, das er sich so lange nicht mehr angesehen hatte.

Die Tränen ließen ließen seine Schärfe immer mehr schwinden, bis er es schließlich kaum noch erkannte. Langsam ließ er es sinken.

„Es tut mir so leid, Elin“, sagte er mit einem erstickten Laut zum Grabstein.

„Ich weiß, Alan, ich weiß“, glaubte er ihre Antwort zu hören. Ein kaum merkliches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.

Noch lange blieb er so stehen und spürte, wie jede Träne, die aus seinen Augen quoll, einen Teil von dem Schmerz zuließ, einen Teil von ihm erleichterte.

Kapitel 1

Drei Tage später trat Alan durch die Tür eines Pubs. Drinnen war es dunkel und er musste erstmal stehen bleiben, damit sich seine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnen konnten. Stück für Stück wurden aus den schwachen Konturen Tische, Stühle, eine Bar und ein paar Gäste. Es war Nachmittag und nicht viel los. Missmutig und mit gesenktem Kopf schlenderte Alan an die Bar, setzte sich und bestellte ein Bier. Dann wartete er.

Nathan, sein bester Freund, oder wohl besser ehemals bester Freund, den er seit er die Stadt verlassen hatte weder gesehen, noch gehört oder sonstwie an sich rangelassen hatte, war noch nie pünktlich gewesen. Insgeheim war Alan froh darüber, denn so konnte er sich für das, was kommen würde, wappnen. Dieses Treffen war eher ein Pflichttermin als eine freudige Verabredung unter Freunden. Am liebsten wäre Alan zurück in seinem Hotelzimmer, in dem er seit der Ankunft lebte, da er es einfach nicht fertiggebracht hatte in seine frühere Wohnung zurückzukehren. Zu viel Schmerz würde ihn dort erdrücken. Gerade überlegte Alan, ob er nicht einfach wieder zurück ins Hotel gehen sollte, da legte ihm jemand von hinten eine Hand auf die Schulter und warf sich auf den Hocker neben ihm.
„Hey Alan, schön dich mal wieder zu sehen.“ Es war Nathan, der ihn einer kritischen Musterung unterzog: „Mann, siehst du schlecht aus!“.
„Diese Direktheit habe ich vermisst“, grummelte Alan ironisch in sein Bier.
„Sorry Kumpel, aber so ist es halt, siehst aus, als hättest du´n paar Nächte durchgemacht. Naja ist wohl kein Wunder, wo du jetzt wieder hier bist und der ganzen Sache mit, ach du weißt schon, nachdem Elin…“.
„Jaja, ich weiß“, unterbrach Alan ihn forsch. Er wollte nicht ihren Namen hören, er wollte überhaupt nicht über sie reden, genau deshalb hatte es ihm vor diesem Treffen so gegraut.
„Ja“, antwortete Nathan und starrte für eine Weile eine Kerbe im Tresen an.
„Auf jeden Fall schön, dass du wieder da bist, wir haben uns echt lang nicht gesehen, muss ja vor der Beerdigung gewesen sein, da hab ich dich zumindest nicht gesehen.“
„Ja stimmt“, antwortete Alan knapp. Er fühlte sich von Sekunde zu Sekunde unwohler und wollte nur noch weg.
„Und was hast du in letzter Zeit so getrieben?“, fragte Nathan, der bemerkt zu haben schien, dass Alan über dieses Thema nicht sprechen wollte.
„Nicht viel, ich mein, ich war eine Weile weg und brauchte etwas Abstand, aber…“
Auch über dieses Thema wollte er nicht reden, es war zu nah an ihr dran und außerdem viel zu niederschlagend, da er in der letzten Zeit praktisch nichts gemacht hatte.
„Schon mal darüber nachgedacht zu studieren? Wär doch langsam Zeit weiter zu machen, das hätte Elin bestimmt gewollt“, fragte Nathan jetzt.
„Mmh“, machte Alan. Dann sprang er plötzlich auf. Es war ihm zu viel, er konnte nicht hier in diesem düsteren Raum bleiben.
„Sorry Alter, aber ich muss jetzt los, hab noch was… zu erledigen“, endete er lahm, warf Nathan einen letzten Blick zu und verließ mit eiligen Schritten den Pub. Draußen blieb Alan erstmal stehen und stieß die Luft aus. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er sie angehalten hatte. Dann lief er los. Er wusste nicht, wohin er ging, sondern überließ seinen Beinen völlig die Führung.

Alan war bewusst, dass er nicht einfach so hätte gehen sollen, aber er hatte es einfach tun müssen. Das schlimmste war nicht Nathan, der ihn sofort an die Zeit vor einem Jahr erinnert hatte, gesehen zu haben oder, dass er offensichtlich auf Elins Beerdigung gewesen war, auch wenn das schwer genug gewesen war. Nein, das schlimmste war, dass Nathan recht hatte. Elin hätte es schrecklich gefunden, wie er sich verhielt. Sie hätte gewollt, dass er sein Leben weiterlebte und nicht stillstehen ließ, nur weil ihres zu Ende gegangen war. Doch das war verdammt nochmal schwerer, als es sich anhörte! Es war ja schon ein Fortschritt, dass er es überhaupt zuließ an sie zu denken, wie sollte er da ein Leben, dass er in allen möglichen Details mit ihr geplant hatte und mit ihr hätte erleben sollen, ganz alleine führen? Das ging einfach nicht. Ein paar mal, als er glaubte, es nicht mehr ohne sie ertragen zu können, hatte er sogar überlegt, ob er ihr nicht einfach folgen sollte, doch diese Zeiten waren nun schon lange vorbei. Eigentlich wusste er, dass er weiter machen musste. Vielleicht hatte Nathan recht, vielleicht sollte er anfangen zu studieren. Es musste ja nicht gleich das College sein, an das sie beide hatten gemeinsam gehen wollen. Er könnte sich eines weit davon entfernt suchen, damit es leichter würde. Mit jedem Schritt fand er die Idee ein klitzekleines bisschen besser, bis er sie schließlich tatsächlich in Betracht zog. Ja, er konnte zumindest mal nach ein paar Colleges gucken.

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